Ballengang im Alltag (2)


Oder: Der Beobachter

Ballengang_lupe

Liebe Leser,

In der Reihe „Ballengang im Alltag“ geht es heute mit der zweiten von sechs Folgen weiter.

Stellen Sie sich vor, Sie wollen etwas, das Sie „eigentlich können“ weiter verbessern oder modifizieren. Etwas das so vertraut ist, dass Sie schon lange gar nicht mehr bemerken, was Sie tun.

Die erste Voraussetzung dafür hätten Sie genialer Weise bereits erfüllt, nämlich das WOLLEN. Ohne eigenen Antrieb, ohne ein WARUM wird es kaum möglich sein, tatsächlich etwas zu erreichen. Deshalb ganz vorab die Frage an Sie:

Warum möchte ich denn mein Bewegungsmuster (beim Gehen) verändern?

Unabhängig von Ihren persönlichen Gründen gehen wir nun in mehreren Schritten an die praktische Herangehensweise.

Da ich immer wieder Herausforderungen suche, neue Dinge richtig und konsequent neu zu lernen oder stark zu verbessern, bin ich permanent in dieser Situation und beobachte neben dem Gegenstand des Lernens immer wieder den Vorgang des Lernens, des Umlernens, sich Aneignens aufs Neue.

Ein eigenes aktuelles Beispiel sei mein neues Musikstudium. Ich habe mir vorgenommen, meine seit meiner Kindheit erworbenen Fähigkeiten von Grund auf neu zu erlernen und habe tagein tagaus damit zu tun, sowohl Neues zu erlernen als auch alte, total gewohnte Bewegungs- und Hörmuster zu erweitern bzw. gänzlich zu verändern. Und ein offenes, entdecken lassendes Unterrichten als Coach und Therapeut meinerseits unterstützt diesen Erkenntnisprozess immens.

Was wir, bei eigener Motivation, als Grundlage benötigen, ist die Beobachtung bzw. Wahrnehmung.

Wir können drei verschiedene essenzielle Beobachtungsmodi unterscheiden. Dabei ist es wichtig, diese penibel voneinander zu trennen. Andernfalls entsteht ein unscharfes Selbstbild, das für die eigene Weiterentwicklung wenig hilfreich ist.

1. Die Selbstwahrnehmung

Was fühle, höre, sehe,… ich bei mir? Unabhängig davon, wie das von außen wirkt! Um diese Wahrnehmung zu schärfen, ist es unerlässlich, ganz bei sich zu sein, bestenfalls ganz alleine ohne jegliche Beobachter/Zuhörer etc. Hier geht es darum, ganz in sich zu gehen und seinem eigenen Tun mit voller Aufmerksamkeit und Präsenz zu lauschen: Wie atme ich gerade? Wie stehe ich genau, auf welchem Bein liegt mehr Belastung? Sind meine Schultern wirklich hängend – halte ich etwas unentwegt fest? Wenn ich eine Bewegung ausführe, was bewegt sich mit, spannt sich an, ohne dass dies notwendig wäre und ohne, dass ich das eigentlich will? Wenn wir wirklich aufmerksam sind, werden uns immer neue Details über uns selbst bewusst, von denen wir vorher keinerlei Kenntnis hatten.

Leider gibt es im Punkt Selbstwahrnehmung einen Haken, nein … eigentlich zwei:

⁃       die Fähigkeit, sich wirklich vollumfänglich wahrzunehmen, ist eine Kunst für sich und bedarf wiederum des Übens. Würde die Selbstwahrnehmung perfekt einfach so funktionieren, dann gäbe es keinerlei Veränderungs- oder Lernbedarf, da man zu 100% sein eigener Lehrer wäre. Andererseits steigt die allgemeine Auffassungsgabe und der Lernfortschritt mit zunehmender Fähigkeit der Selbswahrnehmung rasant, weshalb sich die Stärkung der Selbstwahrnehmung extrem lohnt.

⁃       Der zweite Haken ist etwas tückischer: Leider ist die Wahrnehmung von sich selbst nie wirklich realistisch/objektiv. Beim Musizieren ist das inzwischen ein anerkanntes Phänomen. Während man musiziert, imaginiert man geistig einen bestimmten Klang, versucht ihn fast zeitgleich umzusetzen und das Gehirn täuscht dem Übenden vor, genau diesen Klang zu produzieren, auch wenn er real von der Vorstellung zu einem gewissen Grad abweichen kann. Hört man das gleiche als Audioaufnahme von außen, ist die Wahrnehmung eine ganz andere. Selbiges kann man auf viele Tätigkeiten übertragen. Während des Tuns ist es also trügerisch, sich einzuschätzen. Ein weiterer Täuschungseffekt bei der Selbstwahrnehmung ist der fehlende Vergleich zur Außenwelt. Beispielsweise fühlte ich mich nach 15 Jahren intensivstem Kampfkunsttraining äußerst sensibel für meine eigenen Bewegungen und die von anderen. Diesen großen Irrtum konnte ich erst feststellen und auflösen, als ich erkannte, wie extrem Wahrnehmung ausgebildet sein kann und dass ich bisher eine ungeeignete Methode praktizierte.

2. Die Wahrnehmung durch Andere

Etwas völlig anderes als die Eigenwahrnehmung ist das, was andere an mir beobachten, hören, fühlen. Diese Art der Wahrnehmung ist genauso wichtig wie die Eigenwahrnehmung, wird aber beim klassischen Unterrichten stark überbeansprucht.

Gemeint ist das Feedback, die Beurteilung durch einen Beobachter, Übungspartner, Zuhörer, Lehrer, die Aufschluss über die Qualität des eigenen Tuns gibt. Selbstverständlich ist die Beurteilung von außen (sofern sie erwünscht ist!) sehr wichtig zum Lernen, weil die eigene Wahrnehmung entweder (noch) nicht genügend ausgebildet ist oder das Gegenüber aufgrund höherer Erfahrung über mehr oder genauere Beobachtungskriterien verfügt. Dennoch sollte diese Außenbeobachtung immer mit dem eigenen Eindruck abgeglichen werden. Das fördert das Verständnis dafür, wo genau beim Lernen angesetzt werden kann. Die Außenwahrnehmung kann auch unerlässlich werden, wenn es um sehr tiefgreifende Informationen geht, die man als Betroffener selbst gar nicht wahrnehmen kann (Phototechnische, Chemische medizinische Untersuchungen, psychologische Gutachten, etc.).

Im Bereich der Körperarbeit / Bewegung steht hier beispielsweise die videogestützte Ganganalyse sowie die Körperstrukturanalyse. Hieraus können mit fachkundiger Auswertung sehr viele wertvolle Informationen zur Erweiterung des Selbstverständnisses und damit zum Lernen und Verändern geschöpft werden. Neben visueller oder auditiver Rückmeldung ist besonders bei Bewegung die Fremdwahrnehmung über fühlenden Körperkontakt sehr effektiv. Beim Tanzen, in Kampfkünsten und in körpertherapeutischer Arbeit ist dies der zentrale Prozess überhaupt.

Auch in der Außenwahrnehmung gibt es zwei Haken:

⁃       sie ist komplett von der Kompetenz desjenigen abhängig, der uns wahrnimmt und ist demzufolge (ebenso wie die Eigenwahrnehmung) zu relativieren. Es macht einen Unterschied, ob eine vertraute Person, ein Laie oder ein Experte uns wahrnimmt und entsprechend seines Hintergrundes Feedback gibt. Das hat dann entsprechend Auswirkungen auf das eigene Lernen.

⁃       Bei mangelnder Selbstbeobachtungsgabe besteht die Gefahr der zu großen Ausrichtung auf den Beurteiler. So kann es passieren, vollständig von Korrektur, Lob und Kritik eines anderen abhängig zu werden und das Gefühl für das eigene Tun nicht aktiv sein oder gar verkümmern zu lassen. Damit würde eine essenzielle Voraussetzung zum Lernen und wirklichem Verändern fehlen.

3. Das Beobachten der Umwelt

Diese Art der Wahrnehmung ist zunächst äußerst basal: Das Beobachten mit anschließender Imitation ist der wichtigste frühe Lernprozess von Menschen und findet ab den ersten Lebensmonaten statt. Wir benötigen aber eine uns weiterbringende Form des Lernens, indem wir auf eine reifere Art andere Beobachten, nämlich als Erweiterung der Selbstwahrnehmung:

Was VON MIR erkenne ich im Anderen wieder? Wie wirkt diese Beobachtung bei mir? Was hat das Beobachtete samt meiner Reaktion darauf mit mir selbst zu tun? Diese Art der Beobachtung kann äußerst wirkungsvoll sein, um Vorgänge und Gewohnheiten, die mir an mir selbst absolut nicht bewusst sind, von außen bei anderen zu bemerken. Es ist erstaunlich, welche Seiten man von sich selbst entdecken kann, wenn man den Sprung von dem Beobachteten zu sich selbst schafft.

Gerade im Bereich des Gehens bekam ich sehr viel Feedback für mich selbst aber auch von Klienten, denen diese Art der indirekten Selbstbeobachtung sehr hilfreich war.

Auch hier gibt es einen Haken, der recht schnell jeglichen Nutzen einstellt:

⁃       Leider neigen wir Menschen dazu, uns mit Anderen zu vergleichen und damit zu bewerten. Anstatt mit neutralen, neugierigen Augen und Ohren wahrzunehmen, passiert es oft, dass wir andere als „schlechter“ oder „besser“ kategorisieren und – schlimmer – ihnen Zusatzattribute wie „blöd“, „dumm“, „arrogant“, „überheblich“, etc. anhängen. Und das ist Ausdruck eines eigenen Gefühls und keine Eigenschaft der Anderen. Da dieser Übertrag auf sich selbst in solchen Fällen per se ausbleibt, sind Lernerfolg und persönliche Erkenntnis dann gleich null.

Wir sehen, dass die Wahrnehmung ein entscheidender Faktor, ja die Grundvoraussetzung dafür ist, mit Veränderungen im Alltag überhaupt anzufangen. Ebenso ist deutlich, dass auch die Wahrnehmung nicht selbstverständlich ist und der Ausbildung sowie des bedachten Umgangs damit bedarf. Erst wenn ein Bewusstsein dafür geschaffen ist, was genau ganz konkret einer Veränderung bedarf, können wir uns dem WIE zuwenden. Dazu dann in den folgenden vier Teilen demnächst mehr.

Wenn Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit der Wahrnehmung haben, schreiben Sie gerne Ihren Kommentar dazu.

Herzlich, Ihr Stefan Heisel

ballengangseminar_heisel

Hinterlasse einen Kommentar