Bewegung im Alltag (1)


oder: „Ballengang“ ist Alles

 

Gehen-Lernen-Ballengang_Kind
Alltagslernen (1)

Liebe Leser, sehr oft taucht die Frage auf, ob man seinen Gehstil umstellen sollte. Die Gründe dafür liegen oft in der Vorbeugung oder Verbesserung von Fußbeschwerden, Knie-, Hüft-, oder Rückenschmerzen oder einfach als Rückkehr zur „natürlichen Bewegung“.

Um das zu erreichen, beginnen viele mit dem Barfuß-Gehen oder dem Tragen von Minimalschuhen. Da es auch offensichtlich ist, dass neben der Ausstattung der Füße auch das Erlernen einer bestimmten Technik das Gangbild positiv beeinflusst, haben sich Begriffe wie „Ballengang“, „Fersengang“ oder „Mittelfußgang“ eingebürgert.
Diese eher unglückliche Begriffswahl führt in der Praxis und in der Kommunikation über das Gehen dazu, dass die Bewegung ausschließlich auf Eigenschaften des Fußes beschränkt bleibt.
So untersucht man, wie der Fuß auftritt, wie welches Gewölbe beschaffen ist oder wo Deformationen sind. Mit hohem technischen Aufwand wird der Belastungsdruck der Füße im Stand gemessen und Ganganalysen auf Laufbändern durchgeführt, die den Gang zudem nicht unter praktischen Bedingungen messen. Die Bewegung wird dazu meist nur vom Unterschenkel abwärts analysiert.

Nun ist es ja so, dass Beschwerden ja auch aus ganz anderer Quelle entstehen können. So ragt das Sitzen in die Aufmerksamkeit der Maßnahmen. Auch hier werden aufwändige Sitzmöbel konstruiert, welche das Sitzen bequemer machen und die Wirbelsäule entlasten sollen. Ganze Arbeitsplätze werden ergonomisch optimiert, um dadurch schwerwiegenden Langzeitschäden/ Krankenständen vorzubeugen.

Selbiges im Bereich des Liegens/ Schlafens. Auch hier versprechen aufwändige Matratzen, dem Rücken gut zu tun, in dem sie jede Körperkurve im Liegen ausgleichen.
Die Fitness/Wellnessbranche bietet quasi jährlich neue Bewegungskurse an, je nach Trend, die in der Masse von Instruktoren mit zertifizierter Wochenendausbildung an größere Gruppen angeboten werden. So soll durch ungefähres Nachmachen von mehr oder weniger dynamischen Tänzen oder Einzelübungen ein Ausgleich für den sonst so ungesunden Bewegungsalltag geschaffen werden.

Doch was wird durch all diese Maßnahmen tatsächlich erreicht?

Genaugenommen wird der eigentliche Alltag vollständig ausgeblendet. Stattdessen wird versucht, entweder durch ein Detail der Bewegungsvielfalt oder durch ein kurzes Zeitfenster des Ausgleichs eine Behebung dessen versucht, was in der allermeisten Zeit unbewusst und automatisch schiefläuft.

Doch was macht unser Wesen und damit unsere Struktur, unser Bewegen, Denken und Fühlen tatsächlich aus?
Ein Schuh, ein Stuhl, eine ergonomische Maus, ein Fitnesskurs oder gar eine Matratze?
Sicherlich nicht…

Es ist unser Alltag, unser reales Tun und Erleben, was uns zu dem gemacht hat, was wir sind.
Aus der Psychologie ist bekannt, dass sich prägende Ereignisse in der Körperstruktur physisch manifestieren, meist äußerlich gut erkennbar. Das Bild, von einem Trauma einen „Knacks“ zu bekommen, hat daher einen realen körperlichen Gehalt. Es muss aber kein Trauma sein, denn auch jahrelange Gewohnheit, die sich langsam unbewusst einschleicht (und natürlich zur eigenen Individualität gehört) kann sich auch zu einem Laster entwickeln, das durch einfaches Üben schwerlich zu korrigieren ist.
Und hat sich eine Eigenheit fest etabliert (beispielsweise einseitiges Schulter Hochziehen, breitbeiniges Stehen, durchgedrückte Knie, Festhalten des linken Armes, …..) dann verändert sie langfristig die Form des Körpers. Und wenn der Körper in seiner Form auf diese Eigenheiten eingestellt ist, fallen ihm rein physisch relevante erwünschte Veränderungen schwer. So manifestiert sich im ungünstigen Fall eine körperschädliche Eigenheit langfristig immer mehr.

Demzufolge ist also nicht nur der Gang, sondern jede Bewegung von der individuellen Körperstruktur (Hardware) und den erworbenen Nervenbahnen (Software) die charakteristische Bewegungsmuster auslösen, geprägt.
Wollen wir aber – aufgrund von Beschwerden oder um uns leichter/ effektiver zu bewegen- unser Gangbild verändern, also EINE Alltagsbewegung von vielen, die allesamt unbewusst ablaufen, dann genügt es nicht, neue „Gangtechniken“ zu erlernen. Je spezieller diese wären (z.B. den Aufsatz des Fußes umstellen) desto weniger integriert sind diese in die bestehende Software und Hardware des Einzelnen.

[Um einen Vergleich zu stellen: Es ist einleuchtend, dass man seine Rückhand beim Tennis nicht alleine dadurch verbessern kann, indem man Handgelenkbewegungen übt und sich weder mental noch gesamtkörperlich weiter entwickelt. Dazu kommt, dass Tennis eine spezifische Disziplin ist, die wenig Berührungspunkte mit unbewusst ablaufenden Alltagsbewegungen hat]

Wie also kommt man an diese Alltagsbewegungen ran? Einzelne spezifische Übungen funktionieren zwar als Erfolgserlebnis für den Moment des Übens, doch die restlichen 95-99% der Lebenszeit, in der die Gewohnheit herrscht, überwiegt dennoch gravierend. Anders ausgedrückt: Es resultiert nur ein sehr eingeschränkter Lernerfolg, wenn pro Tag fünf Minuten etwas geübt wird, das in der ganzen restlichen Zeit durch die tägliche jahrzehntelange Alltagsroutine überlagert wird. Dennoch funktioniert diese Art des Übens bei speziellen Tätigkeiten wie dem Spielen eines Instruments oder dem Ausüben eines Handwerks, weil hier ein anderer Modus im Bewusstsein angelegt ist, der jedoch nicht zur Alltagsroutine gehört. Doch für Veränderungen fester unbewusster Gewohnheiten, zu dem auch das Gehen gehört, müssen wir anders vorgehen.

Der Gang charakterisiert uns zutiefst. Er ist individuell und nicht standardisierbar. Und das ist gut so. Doch gibt es bei all der Fülle von Gangbildern, die immer auch kulturell geprägt sind, einige GRUNDSÄTZLICHE Funktionen, die aus verschiedenen Gründen kontraproduktiv für das Wohlbefinden, die Gesundheit, die Beweglichkeit, den Kraftaufwand und auch die Ausstrahlung nach außen sein können. Die wichtigste Beobachtung dabei:

Die Bewegungsqualität, die sich beim Gehen zeigt bzw. nicht zeigt, durchzieht den Großteil jeglicher Bewegungsmuster, die ebenfalls unbewusst und routinemäßig Tag für Tag wiederholt werden. Eine wirkliche Veränderung des Gangbildes muss daher die grundsätzliche Qualität ALLER Alltagsbewegungen mit einschließen. Und umgekehrt wirkt sich eine allgemeine Veränderung des Körpergefühls und der Bewegungsqualität immer auch auf das Gangbild aus.

Was zeichnet ein ausgewogenes, dymanisches Gangbild aus:

# Federung durch alle tragende Gelenke von Ballen bis Altlasgelenk

# Gegenläufige Rotation zwischen Becken, Brustkorb und Kopf

# Aufrichtung der Körpersegmente entsprechend der Schwerkraft und der natürlichen Ausrichtung des Skeletts sowie der Bewegungsrichtung

# Kraft aus dem Körperzentrum

# Hemmung/ Entspannung aller nicht für die fokussierte Bewegung benötigten Muskelkontraktionen

# Weite Gelenke und langer Rumpf

Diese Qualitäten durchziehen untrennbar den gesamten Bewegungsspielraum vom der Atmung angefangen über das Liegen, Sitzen, Stehen, den entsprechenden Übergängen, dem Heben, Ziehen, Drücken, Werfen bis hin zum Gehen, Laufen und Springen.

Stellen Sie sich vor, Sie machen technische Übungen zum Gehen, z.B. den Fuß hängen lassen, und Atmen dabei wie immer, sitzen, stehen, heben den ganzen restlichen Tag wie Sie es immer schon taten. Ihr Becken steht noch immer in einem ungünstigen Verhältnis zum Kopf, Ihr Bauch ist angespannt, vom unteren Rücken oder dem Nacken ganz zu schweigen. Dieses Hängenlassen des Fußes wird maximal in der Übung funktionieren und sobald alles Restliche mit der bestehenden „Software“ und „Hardware“ in eine unbewusste Bewegung fällt, ist die Einzelübung vergessen und es findet keine Integration in die persönliche Bewegungsqualität statt.

Wie also kann eine unerwünschte Gewohnheit überhaupt modifiziert werden? ….

Vielen Dank für Ihr interessiertes Lesen bis hierher! Versuchen Sie doch gerne, sich eigene Gedanken dazu zu machen oder bereits erlebte Erfahrungen hierzu bewusst zu machen. Und schreiben Sie gerne Ihren Kommentar unter diesen Artikel.

in Kürze stelle ich meinen persönlichen Ansatz in diesem Blog vor.

Viel Spaß beim Entdecken und bis demnächst.

Ihr Stefan Heisel

8 Gedanken zu „Bewegung im Alltag (1)

  1. Ein spannender und logischer Ansatz. Ich bin immer wieder mit meinen Ballengang-Versuchen gescheitert, obwohl ich die Übungen nicht schwer fand.

    Wenn der Körper eine bessere Grundspannung hat, geht es sich leichter. Aber wie halte ich diese über den Tag? Irgendwann denke ich nicht mehr dran und dann ist sie weg…

    Ich bin gespannt, wie es weitergeht.

    1. Hallo Angelika, danke für deinen Input!
      Es geht eben genau um die Ebene, ohne daran denken zu müssen.
      Was deine Grundspannung betrifft, kann diese ja nicht als Selbstläufer halten, da du sie bewusst „machst“
      Es geht darum, nicht zu „machen“ sondern zu „sein“

      Dann „macht“ man auch keinen Ballengang mehr, er ist einfach da.

      Herzliche Grüße

  2. Danke für Dein Dranbleiben am Loslassen, lieber Stefan!
    Mit der psychologischen Komponente geht es jetzt an die „Substanz“.
    Die Erkenntnis, dass der Körper (und seine Art sich zu bewegen) ein Ausdruck der Seele ist.
    Damit verlassen wir den Bereich von bloßen „Techniken“.
    Nicht die Gang-, sondern die Persönlichkeitsanalyse steht im Vordergrund!
    Ein Bewusstmachen des Alltags im Alltag sozusagen.
    Nur an dieser Stelle der Selbsterforschung/Erkennen der Gewohnheiten ist ein Umlegen der richtigen Schalter im Bereich des Möglichen.
    Hat es auf dieser tiefen Ebene Klick gemacht, kann ich mich wieder dem technischen Ausführungsbereich widmen – und mit Freude und Erfolg (sog. Flow) voran-schreiten.

    Nochmals Danke für die tolle Wahl Deinen Auf- und Ansatz bewusst offenzulassen, und den Interessierten weiter-gehen zu lassen!

    1. Danke Daniel für deinen Kommentar!

      Ich finde dir Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche sehr spannend.
      Unser Denken ist uns meist im Weg, weil es – bloß weil es das als Nebeneffekt kann- ständig versucht, in Bereichen zu wirken, die nur im Intuitiven zu lösen sind. Und die funktionieren anders als die kontrollierte bewusste Ebene.
      Darum überlege ich stets, wie man in diesen Zustand kommt, um sich weiter zu entwickeln.
      Also wie das Denken wegbleiben kann, um der viel intelligenteren und schneller geschalteten Intuition mehr Spielraum zu geben.

      Wo also ist der Schalter, der Klick machen kann…

      Würden wir uns einfach so entwickeln wie wir es uns denken, das wäre zwar einfach aber auch ein Chaos. Jede Minute sich neu erfinden, wäre unerträglich für alle 🙂

      Deshalb ist es schon gut, dass wesentliche Prozesse sehr tief und auch langsam vorgehen.

      Schauen wir mal

  3. Hallo Stefan,

    seit einigen Jahren kann ich den Ballengang voll im Alltag umsetzen. Sicherlich hat mir dabei das Barfußgehen in meiner Freizeit (da trage ich außer bei strengem Frost niemals Schuhe) viel geholfen denn harte/steinige Untergründe erzwingen den Ballengang.

    Aber berufsmäßig muss ich Sicherheitsschuhe tragen und über die Arbeitswoche ist das der Hauptteil. Man kann auch in Sicherheitsschuhen im Ballengang gehen aber dazu müssen sie ohne Absätze sein und ein Einlegesohle die zur Dämpfung an der Ferse erhöht ist muss rausgenommen werden.

    Allerdings muss ich dazu sagen dass ich ganze 4 Jahre gebraucht hatte um vom Fersen- über einen Schlurf- zum Ballengang in Sicherheitsschuhen zu kommen.

    Liebe Grüße
    Tobi

    1. Hallo Tobi,

      Danke für deinen Beitrag!
      Schön, dass du dich in den Jahren weiterentwickelt hast und dein Körpergefühl inzwischen auch in verschiedenen Umgebungen positiv nutzen kannst.
      Darum geht es ja. Eigene Kompetenzen aufbauen, die einem niemand mehr nehmen kann. Nicht mal schlechte Schuhe 🙂

  4. Denken-Fühlen-Bewegung! In bin Waldorflehrerin und dieser Ansatz ( für die Pädagogik ersetzt das Wollen die Bewegung) kommt mir sehr entgegen, zumal in der Eurythmie auf diese Weise geschritten wird.
    Ich habe mich quer durch vermutlich sämtliche Tutorials gelesen und wollte bereits aufgegeben, denn alles Probieren fühlte sich halb-fertig an. Dann stieß ich auf deinen Online-Kurs und fühle mich reich beschenkt. Es läuft…. Wahrnehmungsübungen anstatt Training, ganzheitliche Betrachtung Selbstanalyse, ein toller Ansatz. Ich bin noch mitten im Kurs und fühle mich manchmal noch etwas hölzern und verschieden von meinen Mitmenschen, aber es entwickelt sich. Schwierig wird es für mich, wenn ich in Eile bin und wenn ich die Hände nicht frei habe. Dann gerate ich in alte Muster. Ich danke dir fürs Teilen deiner Erfahrungen, Forschungen geradezu und fürs Mitnehmen im Sinne von Anregungen-selbstverantwortlich-zu-Ende-denken.

    1. Hallo Andrea, danke für dein Feedback!
      Ja, so ist der E-Mail Kurs gedacht: Machen- Fühlen- Beobachten- Probieren- neuer Input- Machen- Fühlen….

      Schön dass es bei dir ankommt.

      Ich hatte mich schon aus Interesse intensiv mit der Eurythmie beschäftigt, um deren Bewegungshintergrund zu verstehen. Hier gefiel mir der Ansatz, dass Kinder von Geburt an völlig unterschiedlich im Charakter und Temperament sind und schon deshalb keinesfalls auf die gleiche Weise gehen. Das half mir, noch exakter zu forschen und entsprechend zu coachen.

      Ein Tipp um weniger Gefahr zu laufen, in alte Muster zu geraten: Schaff dir neue Umgebungen, Begebenheiten etc. So hat das Alte weniger bis keine Trigger mehr, die unbewusst greifen und das Neue kann in Ruhe neue Bahnen schaffen.

      Viel Freude dabei !

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