Etabliert sich der Ballengang?


Oder fehlt der Begriff für den angeborenen Gang?

Liebe Lesende,

Was ist richtiges Gehen? Diese Frage ist noch immer umstritten und wird auch aus wissenschaftlicher Sicht kontrovers diskutiert. Heute krame ich einen Radiobeitrag vom September 2021 aus, den ich lange im Hinterkopf abgelegt hatte. Ich lade Sie dazu ein, sich diesen Beitrag selbst anzuhören und daraus Ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. -> Zum Deutschlandfunk: Wie geht Gehen? (Text und Podcast)

Ich fasse die darin behandelten Stichpunkte aus meiner eigenen Sicht als empirisch Forschender und praxisorientierter Bewegungsmentor und Faszientherapeut zusammen:

Der menschliche Fuß, ein Wunderwerk

Im Artikel geht es eigentlich nicht um den Fuß als solches, sondern auf die Auswirkungen die Schläge durch das Aufsetzen mit der Ferse im Skelett bewirken. Das ist schade. Denn der Fuß ist weit mehr als die bloße Ablagefläche für unser Körpergewicht. In ihm sind ursprünglich noch ähnliche feinmotorische Netzwerke vorhanden wie in unserer Hand. Er ist von Geburt an geschmeidig und abgesehen von der fehlenden Daumenspreizung sehr vielseitig. Säuglinge, die noch nicht laufen, beschäftigen sich viel mit ihren Füßchen und bewegen und erforschen sie auch entsprechend ausgeprägt. Menschen, die ohne Arme geboren werden, lernen erstaunlich viele Tätigkeiten mit den Füßen zu erledigen, die man kaum glauben kann. Das geht von alltäglichen „Handgriffen“ bis hin zu komplexen handwerklichen Tätigkeiten. Das zeigt uns das Potential, das im Fuß angelegt ist. Die Frage, wie mit dem Fuß beim Gehen, dazu noch in Schuhen, „korrekt“ aufgesetzt werden sollte, ist daher zu einfach. Meine persönliche Empfehlung hierzu, auch angeregt durch einen Tango Argentino Lehrer wäre: Wenn schon der Fuß die Auflagefläche für unser Körpergewicht ist, dann spielen Sie doch einfach damit! Probieren Sie aus, zu welchen verschiedenen Möglichkeiten Ihr Fuß mit und ohne Schuhe imstande ist! Streicheln Sie den Boden damit, bevor Sie aufsetzen. Fühlen Sie genau, auf welche Art der Fuß die allmähliche Belastung in Zeitlupe aufnimmt. Fordern Sie die Agilität Ihrer Füße regelrecht heraus und regen Sie sie an, ihre ursprüngliche Vielseitigkeit wieder zu erahnen. Ich bin mir sicher, dass ein achtsamer Umgang mit den eigenen Füßen alleine schon zu einer veränderten gesamten Körperarbeit beim Gehen führen wird. Nur zu!

Kleine Kinder gehen meist auf dem Vorfuß

Im Artikel ist nun von Ballett die Rede und dass Ballerinas auch im Alltag gewohnheitsmäßig auf dem Vorfuß gehen. Hier muss ich etwas einhaken. Das Ballett, wie wir es kennen ist eine rein kulturelle Errungenschaft mit den zur Entstehung geltenden Maßstäben an Schönheit und Eleganz, die zu der dazu eigens komponierten Musik passt. Schauen wir uns das Training der Ballerinas an, dann wird uns sofort klar, dass dies genau zu diesem Zweck auf Hochleistung ausgerichtet ist, viele ungesunde Übungen enthält, bis hin zu Überbeweglichkeit und Gehen auf den Zehen. Ich hatte auch bereits gut ausgebildete Ballerinas in meinen Kursen und stellte tatsächlich Einschränkungen im alltäglichen Bewegungsraum fest. Angefangen bei stark ausgeprägtem Hohlkreuz, labilen Hüften bis hin zu außenrotierten Beinen ab Hüfte abwärts in „Normalstellung“ (eine gerade Ausrichtung fühlte sich extrem einwärtsgedreht an -> Wahrnehmungsverzerrung). Insofern kann ich diese Kunstform auf der einen Seite zwar bewundern, auf der anderen Seite aber davon Abstand wahren, diese Bewegungsformen als „gesund“ oder gar als angeboren zu bezeichnen.
Weiterhin ist davon die Rede, dass Kinder meistens auf dem Vorfuß gehen. Diese Beobachtung kann ich im Allgemeinen nicht bestätigen (Sie wird häufig unhinterfragt als Argument für Ballengang genutzt). Zum einen stimmt dies in der Phase der ersten Schritte, da hier die Zehen einen wichtigen Anhaltspunkt für Halt und Gleichgewicht darstellen. Zum Anderen wäre dieser Gang, wenn er so anhalten würde, pathologisch und führt zum Spitzfußgang (siehe Artikel… LINK) Außerdem ist das Fußgewölbe noch nicht ausgebildet, was dazu führt, dass der ganze Fuß komplett noch instabil ist. Folglich haben Kinder in diesem Lebensabschnitt keine andere Wahl als erstmal mit dem Vorfuß aufzutreten, und zwar solange, bis der ganze Fuß die Last sicher tragen kann.
Nun kommen die Schuhe ins Spiel. Damit verhält es sich ähnlich wie mit anderen Gehhilfen, die dem Kind das Laufenlernen erleichtern sollen: Sie übernehmen Funktionen, die dem Kind erschweren, eigene Strukturen aufzubauen, um in das Gehen natürlich hineinzuwachsen. Ein inkomplettes Fußgewölbe, das von einem Schuh gestützt wird, kann sich viel schwerer aufbauen und gegebenenfalls zu nachträglicher Fußschwäche führen. Ein unflexibles Schuhwerk zwingt das Kind zu früh dazu, die Ferse zu benutzen und etabliert so ein späteres suboptimales einseitiges Gangmuster.
In dem ganzen Artikel ist auch immer wieder von einem „kompletten Bewegungsmuster“ die Rede, ohne näher darauf einzugehen. Das ist für mich ein Grund dafür, nicht mehr von einem „Ballengang“ zu sprechen, sondern vom torsalen Gehen.

Schuhe, gesunde Schuhe, Barfußschuhe

Über dieses Thema gibt es mehrere Anläufe. Ich fasse es kurz zusammen: Da ein Schuh immer die Wahrnehmung, Bewegungsmöglichkeit und damit die Funktion der Füße mehr oder weniger extrem einschränkt, gilt eine einfache Formel: Je weniger sich der Schuh in die Form und Funktion des Fußes einmischt, desto besser kann der Körper seine Fähigkeiten, die er von vorn herein mitbringt, ausleben und ausbauen. Je mehr Veränderung, Einschränkungen ein Schuh mit sich bringt (Absatzhöhe, Flexibilität der Sohle, Platz der Zehen, Platz des Sprunggelenks), desto mehr Kompensation muss der gesamte Körper aufbringen, um sich in einem veränderten Gleichgewicht zu bewegen. Hat der Körper von sich aus echte Defizite, (erworbene oder angeborene Fehlbildungen und Dysfunktionen) braucht er natürlich eine exakte individuelle Hilfe, soweit wie notwendig. Aber nur dann!
Das ist ganz einfach. Und dennoch bei Weitem nicht etabliert.

Barfußlaufen aktiviert die Tiefenmuskulatur

Dieses Thema wird leider nur angekratzt. Die Argumentation, dass durch Barfußlaufen viel mehr sensorische und muskuläre Arbeit erfolgt, ist nachvollziehbar. Jedoch fehlt die Erklärung, was mit „Tiefenmuskulatur“ eigentlich gemeint ist. Ich ergänze dies in kurzen Sätzen:
Ja, wenn ich barfuß gehe, findet mehr Informationsfluss vom Boden über den ganzen Körper nach oben statt und aktiviert mehr und feinere Ausgleichsaktivitäten, um beispielsweise die Balance zu halten. Die dafür verantwortliche Muskulatur sitzt optimalerweise nicht in den großen Muskelgruppen, die ja Bewegungen in Gang setzen sondern in tiefer liegenden kleinen und fein verzweigten Muskeln, welche genau dafür angelegt sind. Nun beginnt das Problem: Wir können zwar barfuß gehen und damit dem Körper mehr Arbeit und Input geben, sich auszugleichen, aber bedingt durch die Gesamtkörperstruktur wird bei der überwiegenden Zahl der Kulturmenschen die große Muskulatur dazu beansprucht, weil diese ohnehin bereits damit beschäftigt, sämtliche strukturelle Dysbalancen auszugleichen. (Was sie ja in dem Maß nicht soll und weshalb ja überhaupt erst kulturell bedingte Beschwerden auftreten) Das bedeutet: Barfußlaufen ist selbstverständlich sehr förderlich und dem Gehen in Schuhen bei Weitem vorzuziehen. Es reicht aber in den meisten Fällen nicht aus, um dem Körper den Impuls zu geben, kein Hohlkreuz, keinen Rundrücken, keine X-Beine, keinen Beckenschiefstand etc. zu erreichen und alle damit einhergehenden Komplikationen abzuschaffen. Hier muss man wieder aufpassen, dass nicht aus einer spezifischen Ideologie der Blick für das Gesamte verstellt wird.

Vorfuß-Rückfuß-Streit und Abrollen

Diesen Themenbereich fasse ich wieder zusammen:
Die Argumentation für den Vorfußgang ist soweit hinlänglich bekannt, als da wären:
– bessere Durchblutung durch doppelte Venenpumpe
Vermeidung von Stößen durch die Wirbelsäule bis hoch zum Kopf/ einseitige (zu hohe) Knochenbelastung)
emotionaler Einfluss durch sanfteren Gang gegenüber dem harten Fersengang
– Aktivierung der Fußreflexzone des Herzens im Vorfußbereich
Vorbeugung der Schädigung der Füße durch verminderten gebrauch der Fußfunktionen (Hallux, Fersensporn, Platt-/Senk-/Spreizfuß)

Dann wird vom Abrollen gesprochen, welches ja eine Rundung des Fußes voraussetzen würde, die der Fuß aber nicht hat. Deshalb ist kein Abrollen möglich. Richtigerweise muss man von Abklappen sprechen und die damit verbundene Hebelwirkung beim Vorwärtsschritt.

Bei dieser Thematik wird nochmals bestätigt, dass, solange man sich mit dem Fuß alleine befasst, es keine Lösung für richtig/ falsch geben kann, weil jede der beschriebenen Auftrittsversionen Vorzüge haben kann.

Was jedoch entscheidend ist, und worüber es im Torsalen Gang letztlich geht, ist die gesamte Körperarbeit, bei der der Fuß bei jedem Schritt sowieso das gerade Passende im Sinne der Körperstruktur und der gerade vorherrschenden Situation voll automatisch tut.

Vorzüge des Vorfußgangs bei bestimmten Leiden

Es wird berichtet, das durch die weichere Landung im Vorfußgang die Knochen und Bandscheiben wesentlich geschont werden. Das kann bei Osteoporose und anderen Erkrankungen eine Verschlimmerung verhindern. Außerdem würde die Gehsicherheit erhöht und damit Stürze vermieden. Die Aussage, dass 70% aller Informationen für das Gleichgewichts von den Füßen kommt, kann ich aus eigener Erfahrung so nicht unterstützen. Dadurch dass ich einmal die Gelegenheit hatte, einen einseitigen Ausfall des Gleichgewichtsorgans im Innenohr zu erleiden, durfte ich einige Wochen lang die Wichtigkeit dieses Organs für Gleichgewicht und Orientierung im Raum erfahren. Auch die Augen spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Alleine auf das ansonsten intakte Körpergefühl war beim sicheren Stand oder gar beim Gehen nicht zu zählen. Bis die Füße wahrgenommen hätten, dass ich am Kippen war, wäre es bereits viel zu spät gewesen, ohne dass eine Information über das Gleichgewichtsorgan dazu kommt.
Dennoch spielen die Füße eine sprichwörtlich tragende Rolle, wenn es um die Aufrichtung des Körpers geht. Ohne Fundament wird es für die Körpersegmente darüber immer schwerer, sich ausgewogen zu positionieren. Dennoch kommt es auf das Gesamtwerk Körper an und hier wird deutlich, dass mit dem Begriff „Ballengang“ die Bedeutung der Körperstruktur, der Wahrnehmung insgesamt und speziell des Rumpfes nicht getroffen wird.

Gangschulen fördern den gesamten Körper und werden kaum angeboten

In diesem Punkt kann ich dem Artikel voll beipflichten. Dem Gehen als solches wird beim Menschen nur sehr wenig Beachtung geschenkt. Weder im Schulsport noch in der Medizin wird sich im Allgemeinen mit dem Gangbild befasst (ähnliches gilt auch für die Körperstruktur). Wenn überhaupt, wird überspitzt ausgedrückt nur unterschieden zwischen: Kann gehen, kann mit Hilfsmitteln gehen, kann nicht gehen. Übersetzt: braucht keine Hilfen, braucht Gehhilfen oder Operation, braucht Rollstuhl (ggf. Pflegegrad und Schwerbehindertenausweis)
Bei Pferden ist das komplett anders interessanterweise. Deren Gangbild wird in der Regel sehr genau unter die Lupe genommen um daraus Rückschlüsse für Einsatzfähigkeit, Krankheiten, Schädigungen und letztlich auch deren Marktwert zu bestimmen… Auch bei KFZ ist der Geradeauslauf, das Fahrwerk ein wichtiger Faktor, der zur Sicherheit regelmäßig gecheckt wird.
Das Gangbild des Menschen scheint da im großen und Ganzen uninteressant zu sein. Obwohl auch an unserem Gangbild wie auch an der Körperstruktur ganz entscheidende Merkmale für Beschwerden, chronische Schmerzen oder Krankheiten mit diagnostiziert und teils ursächlich angegangen werden könnten. Nehmen wir das jetzt erstmal so hin, dass aktuell wenig Interesse und damit auch wenig gestreute Kompetenz zum Thema Ganganalyse, Gangbild und Körperstruktur besteht.

Wer sich für eine aktive Arbeit an seinem eigenen Gang beschäftigen will, für den gibt es immerhin ein paar Lichtblicke: Im Tango Argentino gehört das Gehen zur fundamentalen Grundausbildung, die auch nie abgeschlossen ist. Diese Gangschule des Tango ist zwar sehr auf die Ausübung mit Tanzschuhen ausgelegt, bezieht aber den ganzen Körper mit ein und ist meiner Erfahrung nach durch die permanente praktische Anwendung bei jedem Tanzschritt sehr eindringlich. In einigen Kampfkunstrichtungen oder Körperarbeitskonzepten wird dem Gehen ein gewisser Raum gelassen. Meiner Erfahrung nach sind diese nicht so praxisbezogen wie beim Tango, da zu theoretisch (heute schauen wir uns mal das Gehen an …) und von den Anwendern oft nicht wirklich real umgesetzt.
Dann gibt es noch eine Menge an Laufschulen, die ziemlich durchdacht sind und sich interessanterweise gerade viel wandeln und entwickeln. Nachteil hier wäre gegebenenfalls eine starke Spezialisierung aufs Laufen und, wie häufig bei Trends eine sehr kurze Fließband-Ausbildung, die oft eine große Zahl unerfahrene und auf ein spezifisches Programm begrenzte TrainerInnen hervorbringt.
Echte Gangschulen sind tatsächlich selten und meist auf barfuß Gehen spezialisiert, also zu sehr den Schwerpunkt auf den Fuß.

Zur Eingangsfrage: Etabliert sich der Ballengang:

In der Zeit, als die Sendung im Deutschlandfunk gesendet wurde, befanden wir uns mitten in der Pandamie und erlebten viele Einschränkungen, Versammlungsverbote, häufig sich ändernde Regeln. Viele Themen, die von Bewegung, persönlichem Unterrichten, Gastronomie, Treffen und Seminaren lebten, waren stark herunter gefahren. Wir erleben jetzt einen langsamen Aufschwung im gesellschaftlichen Leben. Themen wie der Ballengang waren tatsächlich immer schon Nischenbereiche und dazu noch stark umstritten, meist mit der Branche der Minimalschuhe in Verbindung gebracht. Gerne rutscht der „Ballengang“ auch in eine leicht geistige Ebene oder in den Interessensbereich von Menschen, die sich mit alternativen Gesundheitsideen beschäftigen. Ein eigener Trend ist da eher nicht zu erkennen und von einer Etablierung einer Gangart kann keine Rede sein, da ja das Gehen an sich schon nicht näher betrachtet wird. Vom Nutzen her würde mir in diesem Genre (Körperarbeit/ Gesundheit) gefallen, wenn das Gangbild an sich sowie die Betrachtung der Körperstruktur allgemein mehr Beachtung fänden.

Gehseminare für torsales Gehen

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Ich habe mich dazu entschlossen, nach der Pandemiezeit und dazu noch jetzt in meinem Wohnort Mannheim (da die Anreisen ohnehin aus dem kompletten DACH-Raum kommen) wieder Live- Gangseminare zu veranstalten. Anstelle des irreführenden Begriffs des „Ballengangs“ wird die Bewegungsart, die für mich immer Voraussetzung für jede Art des Fußauftritts steht, das torsale Gehen von Anfang an fokussiert, was den Lernvorgang erheblich steigert. Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, dann schauen Sie sich HIER die Informationen über das kommenden Seminar am 23./24. September 2023 an.

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